Das, was ist möchte gesehen und gefühlt werden
Vor mir sitzt eine junge Frau, den Tränen nahe. Ihr innerer Kampf spiegelt sich in ihrem Gesicht wieder. „Meine beste Freundin ist schwanger!“ presst sie hervor und dann „Ich bin so wütend! Aber das geht doch nicht! ich darf doch nicht wütend sein, das gehört sich doch nicht! Ich muss mich doch mit ihr freuen!“
Fast jeden Tag erlebe ich in meiner Praxis eine solche oder ähnliche Situation. Die junge Frau versucht, schon seit einiger Zeit, schwanger zu werden. Das, was eigentlich das Natürlichste auf der Welt ist, will ihr und ihrem Partner einfach nicht gelingen. Und dann passiert das, was eigentlich nicht passieren sollte: die beste Freundin, die Schwester oder die Arbeitskollegin werden schwanger und anstatt sich mitzufreuen, fühlt die Frau Wut, Neid oder Eifersucht. Und schämt sich gleichzeitig dafür oder noch schlimmer: sie verurteilt sich für ihre Gefühle und versucht, diese zu unterdrücken.
Wenn ich dann sage, dass es ganz normal sei, dass sie so empfindet und dass es genau so sein darf, werde ich oft zweifelnd angeschaut.
Gibt es bessere oder schlechtere Gefühle?
Warum ist das so? Warum empfinden wir manche Gefühle als gut und andere als schlecht? Warum verurteilen wir uns, wenn wir Neid, Eifersucht, Wut und Traurigkeit in uns spüren?
Von Klein auf wird uns beigebracht, dass es Gefühle gibt, die sich nicht gehören, wie z.B. Wut oder Neid. Gerade Mädchen dürfen nicht wütend sein. „Das macht man nicht.“ oder „Wenn du nicht lieb bist, dann …“ wurde uns in unserer Kindheit häufig vermittelt.
Dabei ist das Gefühl an sich nicht das Problem, sondern eben genau die wertende Einstellung, die uns darüber vermittelt wurde.
Die Einteilung in Gefühle, die sein dürfen und schön sind, wie Freude und Liebe und solche, die sich eben nicht gehören. „Man“ ist nicht wütend und „darf“ nicht neidisch oder eifersüchtig sein.
Gefühle sind Energie
Erst die Geschichte, die uns zu dem jeweiligen Gefühl wertend erzählt wurde, führt zu einer Einteilung in gut oder böse. Würden wir schon als Kinder lernen, dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben und sein dürfen, könnte viel Unglück auf dieser Welt vermieden werden.
Gefühle entstehen, sie drücken sich durch unseren Körper aus, fließen als Energie durch uns hindurch und verändern wieder ihre Form bzw. Schwingung. Normalerweise ist die natürliche Lebensspanne einer Emotion – also die durchschnittliche Zeit, die sie braucht, um sich durch das Nervensystem und den Körper zu bewegen – nur anderthalb Minuten lang. Danach wäre sie schon wieder aus unserem System verschwunden.
Meist aber beginnen wir dem jeweiligen Gefühl eine Geschichte in Form von immer wieder kehrenden Gedanken überzustülpen, indem wir uns mehr mit den Erklärungen für dieses Gefühl beschäftigen, statt uns dem Gefühl selbst zu widmen. Das Gefühl so am besten ganz schnell wieder “weg gehen”. Oder wir lenken uns ab und unterdrücken die Wut, Angst oder Traurigkeit. Dadurch erzeugen wir (und nicht das Gefühl!) Anspannung und letztendlich auch körperliche Symptome.
Gefühle und Gedanken bilden feste Muster in uns
Die Neurowissenschaft ist in den letzten Jahren zu folgender Erkenntnis gekommen: Neuronen, die zusammen feuern, verschalten sich miteinander. Das heißt, wenn wir eine bestimmte Kombination aus Gedanken und Gefühlen immer wieder wiederholen, erzeugen wir tief eingeprägte Muster. Diese Muster nach denen wir dann reagieren wurden häufig schon in unserer Kindheit geprägt. Bestimmte Situationen, Worte oder Gesten wirken dann in unserem weiteren Leben wie ein Trigger für genau diese Muster. Wir reagieren – meist unbewusst – immer nach demselben Muster. Beispiel: Ich bin wütend. —- Wut darf nicht sein. —– Wut wird unterdrückt und zeigt sich dann auf der körperlichen Ebene, z. B. in Muskelanspannung, Kopfschmerzen oder ähnliches.
Alles wandelt sich – auch unsere Gefühle
Gegen Gefühle anzukämpfen macht eng und angespannt. Schöne Gefühle wie Freude oder Gelassenheit festhalten zu wollen aber auch.
Was also habe ich der jungen Frau geraten? Und was kannst du tun, wenn es dir ähnlich geht?
- Anerkennen, dass es gerade genauso ist: Ja, ich bin wütend! Ja, ich bin neidisch! Denn genau das ist die Wahrheit. Durch die Erlaubnis wirst du wahrscheinlich von alleine schon wesentlich entspannter.
- Fühlen, was gerade ist: Du gibst dem Gefühl Raum, indem Du tief und bewusst hinein atmest und spürst. Das Gute ist: dein Körper hilft dir dabei. Er zeigt dir, wo sich das Gefühl manifestiert hat. Für die meisten Menschen ist es leichter, erst einmal die körperlichen Reaktionen wahrzunehmen. Also nimmst du zunächst wahr, was dein Körper dir zeigt, z.B. Anspannung im Brustkorb, Unruhe in der Magengegend, Kloss im Hals usw.
- Dein Atem ist der Schlüssel: Atme tief und gleichmäßig weiter in den Körperbereich, wo sich die Empfindung zeigt. Durch das bewusste Hineinatmen, wird der Bereich weicher, leichter oder ruhiger. Der Atem ist uns hier eine ganz wundervolle Hilfe.
- Fokussieren: Du bleibst mit deiner Aufmerksamkeit an genau dieser Körperstelle und versuchst diese so detailliert wie möglich zu erforschen. Irgendwann wirst du fühlen, was sich alles dahinter verbirgt. Der Kloss im Hals kann eine lang unterdrückte Traurigkeit sein, die Anspannung kann Wut sein.
- Sich nicht verlieren: Es ist wichtig, darauf zu achten, dass du dich nicht in der Geschichte dazu verlierst, denn dann bist du mit deinem Verstand unterwegs und fühlst nicht wirklich. Das heißt, sobald du merkst, dass du analysierst in Form von „Aha, ich bin wütend, weil das und das geschehen ist …“, bist du im Kopf. Halte dich dort nicht auf und gehe wieder zu dem, was du fühlst zurück.
- Geschehen lassen: Gefühle können sich, wenn sie einfach sein dürfen, schnell wandeln. Das Gefühl wahrnehmen und geschehen lassen, was geschehen möchte. Dann wirst du wahrnehmen, dass sich die anfängliche Wut in Traurigkeit verwandelt, die Traurigkeit in Angst, die Angst in Freude ….
Dein Körper hilft dir
Manchmal kann es sein, dass es dir schwerfällt das Gefühl wahrzunehmen. Das ist nicht schlimm! Dann bleibe einfach bei deinem Körper. Spüre die körperliche Reaktion, wie z. B. Anspannung. Spüre und erforsche diese weiter: sie fühlt sich fest an, starr, wie ein Eisblock o.ä. Bleibe mit deiner Aufmerksamkeit dabei und du wirst merken, dass irgendwann „Bewegung“ in die Stelle kommt. Vielleicht wird es weicher oder es beginnt zu kribbeln, und vielleicht spürst du nun auch schon die Emotion, die darunter liegt. Dein Körper ist der Ort, wo alle Gefühle gespeichert sind und gleichzeitig hilft er dir im Jetzt präsent zu sein.
Gerade am Anfang des “Fühlens” kann es sinnvoll sein, wenn du dir Unterstützung holst. Eine Begleitung an deiner Seite zu haben, die dir den Raum hält und dich in deinem Prozess unterstützt, kann dir helfen, dich nicht in deinen Gefühlen oder Drama zu verlieren. In meiner Arbeit öffne ich den Raum, damit Menschen sich und ihre Gefühle besser wahrnehmen können. Ich bin davon überzeugt, dass wir wieder lernen dürfen, zu fühlen. Nur so kommen wir wieder in eine gute Verbindung mit uns. Und nur wenn wir mit uns selbst gut verbunden sind, können wir stabile und gesunde Verbindungen zu anderen Menschen eingehen.
In diesem Artikel habe ich mehr dazu geschrieben.
Hüten und Heilen
Wenn du selbst Heilräume für Menschen eröffnen möchtest, in denen ein heilsamer Umgang mit Gefühlen möglich ist, schau dir meine Ausbildung “Hüten und Heilen” an. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für Heilung und Gesundheit. Und unsere Welt braucht Wegbegleiter und Therapeuten, die aus diesem neuen Bewusstsein heraus mit Menschen arbeiten. Menschen, die offen sind für neue Wege und gleichzeitig das Alte schätzen und integrieren.
Deine
Ramona
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